Vermächtnis der ehemaligen Häftlinge des KZ Sachsenhausen:


Im Konzentrationslager Sachsenhausen und seinen Außenlagern waren in den Jahren 1936 bis 1945 mehr als 200 000 Menschen aus über 40 Ländern inhaftiert. Nach ihrer Befreiung bildeten die am Leben gebliebenen Häftlinge in ihren Ländern nationale Vereinigungen. Wir, die ehemaligen Häftlinge, wollten gegen eine Wiederholung der an uns begangenen Verbrechen kämpfen, die Täter ihrer gerechten Strafe zuführen und die moralischen und materiellen Interessen der ehemaligen Häftlinge faschistischer Konzentrationslager verteidigen.

Wir betrachten alle Häftlinge und Häftlingsgruppen als gleich und ringen darum, dass alle gleich behandelt werden. Die Nazis haben Hierarchien unter den Häftlingen geschaffen. Wir sind überzeugt, dass jeder Häftling zu Unrecht im Konzentrationslager eingesperrt war und gelitten hat.

Vor mehr als 40 Jahren schlossen sich die nationalen Vereinigungen im Internationalen Sachsenhausen Komitee (ISK) zusammen. Zu uns gehören ehemalige Häftlinge aus vielen Ländern Europas, aus Israel und den USA, Kameraden mit unterschiedlicher Weltanschauung, Religion, Lebensauffassung und Herkunft, die unter den verschiedensten Vorwänden von den Nazis eingesperrt worden sind.

Wir müssen heute feststellen, dass wir trotz großer Bemühungen unsere Ziele nur teilweise realisieren konnten. Es schmerzt und empört uns sehr, dass nicht überall in der Welt die notwendigen tiefgreifenden Konsequenzen aus dem verheerenden Krieg und dem perversen System der Konzentrationslager gezogen wurden. Noch ist die faschistische Ideologie der Herrschaft über andere Völker, Menschen und die ganze Welt, der Lösung von Konflikten mit Gewalt, der Missachtung und Geringschätzung des menschlichen Lebens, des Rassismus, insbesondere in der Form des Antisemitismus, nicht überwunden. Vermehrt sind blutige Kriege an der Tagesordnung, noch immer werden Menschen allein wegen ihrer Weltanschauung, Religion, Lebensauffassung oder Herkunft verfolgt und umgebracht.

Unser Kampf muss daher weiter gehen.

Wir, die ehemaligen Häftlinge, haben in den vergangenen Jahrzehnten zur Erreichung unserer Ziele unser Bestes gegeben. Wir haben dabei Hilfe und Unterstützung jüngerer Gleichgesinnter gefunden. Doch nun schwinden unsere Kräfte zusehends, und unsere Zahl wird immer kleiner. Wir wenden uns daher an die Jüngeren mit der Aufforderung, den Stafettenstab von uns zu übernehmen und unseren Kampf für eine gerechte, friedliche Welt entsprechend den heutigen Bedingungen fortzusetzen. Die pluralistischen und demokratischen Prinzipien unserer Zusammenarbeit und der kameradschaftliche Umgang miteinander müssen bewahrt werden.

Wir wenden uns an alle, die sich zu unseren Zielen bekennen und bereit sind, in unseren Reihen zu kämpfen, unabhängig davon, ob sie in verwandtschaftlicher Beziehung zu ehemaligen Häftlingen stehen oder nicht. Wir sind es dem Andenken der ermordeten und der inzwischen verstorbenen Kameraden schuldig, den nachfolgenden Generationen unsere Erfahrungen, unser Leid und die Verantwortlichen dafür sichtbar zu machen.

Die im ISK organisierten ehemaligen Häftlinge des KZ Sachsenhausen und seiner Außenlager legen ihre wichtigsten Überzeugungen und Ziele im folgenden dar.

Dies soll unser Vermächtnis sein.

Wir beauftragen unsere Vertreter und Nachfolger, in unserem Namen

· allen Erscheinungen von Faschismus, Militarismus, Rassismus und Antisemitismus, jedweder Unterdrückung und Ausgrenzung von sozialen Gruppen oder Einzelpersonen auf Grund ihrer Weltanschauung, ihres Glaubens oder ihrer Herkunft entschlossen entgegenzutreten;

· sich für die soziale Sicherstellung und öffentliche Anerkennung der ehemaligen Häftlinge und ihrer Familienangehörigen einzusetzen;

· darum zu ringen, dass die Stimme und der Wille der ehemaligen Häftlinge politisches Gewicht haben, nicht missbraucht oder verfälscht werden;

· die Traditionen der ehemaligen Häftlinge national und international zu pflegen, insbesondere die Zusammenkünfte der Kameraden und die Gedenkveranstaltungen anlässlich der Jahrestage der Befreiung in der Gedenkstätte Sachsenhausen, den ehemaligen Außenlagern und an nationalen Gedenkorten;

· sich dafür einzusetzen, dass in der Öffentlichkeit und speziell an den Orten des Gedenkens

- an das Leiden und Sterben unserer Kameraden und an ihren Kampf gegen die Repressalien der SS erinnert wird,

- die Solidarität zwischen den Häftlingen, die Internationalität, Vielfalt und Individualität der Häftlinge deutlich gemacht wird,

- die Verbrechen der Nazis sowie die Verursacher und Nutznießer des Nationalsozialismus in Deutschland und ihre Helfer in anderen Ländern schonungslos entlarvt werden;

· sich in allen betroffenen Ländern einzusetzen für den dauerhaften Erhalt aller Gedenkstätten und Gedenkorte, für die Sicherung und Suche nach weiteren authentischen materiellen und ideellen Zeugnissen der KZ-Geschichte, der Schicksale unserer Kameraden und der Schuld der Täter. In der Gedenkstätte Sachsenhausen sollen die baulichen Relikte, die an die Zeit des KZ erinnern, möglichst bewahrt und erhalten werden. Dabei sind uns die Überreste der damaligen „Station Z“ besonders wichtig. Von Bedeutung sind aber auch die nach der Befreiung entstandenen Memoriale, insbesondere der Obelisk. Die Forschung zu unserer Geschichte muss unserem Vermächtnis und dem Andenken der ermordeten und verstorbenen Kameraden verpflichtet bleiben;

· für die Aufrechterhaltung einer strikten Trennung der Darstellung der Geschichte des Konzentrationslagers und der Geschehnisse nach dem Sieg über den Faschismus 1945 einzutreten. Eine direkte oder indirekte Gleichsetzung von Ereignissen nach 1945 mit den Verbrechen der Nazis lehnen wir strikt ab. Wir dürfen nicht zulassen, dass Naziverbrechen relativiert oder bagatellisiert werden;

· den staatlichen Institutionen gegenüber als Interessenvertreter der ehemaligen Häftlinge aufzutreten, von ihnen die finanzielle Sicherstellung einer wirkungsvollen Arbeit der Gedenkstätte sowie die finanzielle Unterstützung der Arbeit des Internationalen Sachsenhausen Komitees zu fordern. Wir brauchen die Unterstützung aller europäischen Länder, besonders die der Bundesrepublik Deutschland, denn der Befehl zum Morden kam aus Nazideutschland, ermordet aber wurden Menschen aus ganz Europa. Jedes Land, dessen Bürger als Tote in Sachsenhausen geblieben sind, soll sich dem Gedenken der Ermordeten ewig verantwortungsvoll verpflichtet fühlen.

Um die Arbeit in diesem Sinne erfolgreich zu leisten, brauchen wir die Zusammenarbeit mit anderen Interessenvertretungen ehemaliger Häftlinge faschistischer Konzentrationslager in Deutschland und im Ausland und mit anderen allgemein antifaschistischen Organisationen. Dafür sind wir offen. Fortgesetzt werden muss die bisherige enge Zusammenarbeit mit der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und mit der Gedenkstätte und dem Museum Sachsenhausen.

Wir verbinden unser Vermächtnis mit dem Ruf an die Regierungen aller Länder, deren Bürger im Konzentrationslager Sachsenhausen waren, an die Europäische Union und die Organisationen der Vereinten Nationen: Tragen Sie Ihren Teil zur Entwicklung und dauerhaften Erhaltung der Gedenkstätten in Deutschland und in Ihren Ländern bei und würdigen Sie damit diejenigen, die in schwerster Zeit die Ehre ihrer Nationen hochgehalten haben, nach 1945 den europäischen Geist mitbegründeten und praktizierten und zu den Vätern der UNO-Charta gehörten.

Die Mitglieder des ISK

Sachsenhausen, 22. April 2006


Das Vermächtnis der KZ-Überlebenden

KZ-Überlebende, die die internationalen Komitees von neun Konzentrationslagern vertreten, verabschiedeten in Berlin folgendes "Vermächtnis":


Erinnerung bewahren  –  authentische Orte erhalten  –  Verantwortung übernehmen

 

Wir, die Unterzeichnenden, Überlebende der deutschen Konzentrationslager, Frauen und Männer, vertreten Internationale Häftlingskomitees der Konzentrationslager und ihrer Außenkommandos. Wir gedenken unserer ermordeten Familien und der Millionen Opfer, die an diesen Orten der Asche getötet wurden. Ihre Verfolgung und Ermordung aus rassischen, politischen, religiösen, sozialen, biologischen und ökonomischen Gründen und ein verbrecherischer Krieg haben die Welt an den Rand des Abgrunds geführt und eine schreckliche Bilanz hinterlassen.

 

Nach unserer Befreiung schworen wir eine neue Welt des Friedens und der Freiheit aufzubauen: Wir haben uns engagiert, um eine Wiederkehr dieser unvergleichlichen Verbrechen zu verhindern. Zeitlebens haben wir Zeugnis abgelegt, zeitlebens waren wir darum bemüht, junge Menschen über unsere Erlebnisse und Erfahrungen und deren Ursachen zu informieren.

 

Gerade deshalb schmerzt und empört es uns sehr, heute feststellen zu müssen: Die Welt hat zu wenig aus unserer Geschichte gelernt. Gerade deshalb müssen Erinnerung und Gedenken weiterhin gleichermaßen Aufgabe der Bürger und der Staaten sein.

 

Die ehemaligen Lager sind heute steinerne Zeugen: Sie sind Tatorte, internationale Friedhöfe, Museen und Orte des Lernens. Sie sind Beweise gegen Verleugnung und Verharmlosung und müssen auf Dauer erhalten werden. Sie sind Orte der wissenschaftlichen Forschung und des pädagogischen Engagements. Die pädagogische Betreuung der Besucher muss ausreichend gewährleistet sein.

 

Die unvergleichlichen Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten – erinnert werden muss in diesem Zusammenhang vor allem an den Holocaust – geschahen in deutscher Verantwortung. Deutschland hat viel zur Aufarbeitung seiner Geschichte getan. Wir erwarten, dass die Bundesrepublik und ihre Bürger auch in Zukunft ihrer Verantwortung in besonderem Maße gerecht werden.

 

Aber auch Europa hat seine Aufgabe: Anstatt unsere Ideale für Demokratie, Frieden, Toleranz, Selbstbestimmung und Menschenrechte durchzusetzen, wird Geschichte nicht selten benutzt, um zwischen Menschen, Gruppen und Völkern Zwietracht zu säen. Wir wenden uns dagegen, dass Schuld gegeneinander aufgerechnet, Erfahrungen von Leid hierarchisiert, Opfer miteinander in Konkurrenz gebracht und historische Phasen miteinander vermischt werden. Daher bekräftigen den von der ehemaligen Präsidentin des Europäischen Parlaments und Auschwitz-Überlebenden Simone Veil vor dem Deutschen Bundestag 2004 ausgesprochenen Appell zur Weitergabe der Erinnerung: "Europa sollte seine gemeinsame Vergangenheit als Ganzes kennen und zu ihr stehen, mit allen Licht- und Schattenseiten; jeder Mitgliedstaat sollte um seine Fehler und sein Versagen wissen und sich dazu bekennen, mit seiner eigenen Vergangenheit im Reinen zu sein, um auch mit seinen Nachbarn im Reinen sein zu können."

 

Unsere Reihen lichten sich. In allen Instanzen unserer Verbände, auf nationaler wie internationaler Ebene, treten Menschen an unsere Seite, um die Erinnerung aufzunehmen: Sie geben uns Vertrauen in die Zukunft, sie setzen unsere Arbeit fort. Der Dialog, der mit uns begonnen wurde, muss mit ihnen fortgeführt werden. Für diese Arbeit benötigen sie die Unterstützung von Staat und Gesellschaft.

 

Die letzten Augenzeugen wenden sich an Deutschland, an alle europäischen Staaten und die internationale Gemeinschaft, die menschliche Gabe der Erinnerung und des Gedenkens auch in der Zukunft zu bewahren und zu würdigen. Wir bitten die jungen Menschen, unseren Kampf gegen die Nazi-Ideologie und für eine gerechte, friedliche und tolerante Welt fortzuführen, eine Welt, in der Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus keinen Platz haben sollen.

 

Dies sei unser Vermächtnis.